10. Wiener Spaziergang
„Verrückt, wie die Zeit vergeht“ – trotz Corona. Wir machen den 10. Wiener Spaziergang. Heute bin ich, sehr passend, in Favoriten, im 10. Wiener Gemeindebezirk. Den „Arbeiterbezirk“. Es ist der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens, hier wohnen 10 Prozent aller Einwohner von Wien. Über 40 % der Bewohner von Favoriten wurden im Ausland geboren. In den Erholungsgebieten von Laaer Wald und Oberlaa ist der Ausländeranteil eher gering. Im alten Teil von Favoriten rund um den Reumannplatz bis zum Hauptbahnhof sieht es schon anders aus. Das werden wir dann auch auf den Fotos sehen.
Ettenreichgasse
Aber starten wir. Troststraße Ecke Ettenreichgasse. Benannt nach Josef Ettenreich. Einem Fleischermeister, der 1853 ein Messerattentat auf Kaiser Franz Josef vereiteln konnte. Oberhalb der Troststraße befindet sich die Pädagogische Hochschule. Hier werden Pflichtschullehrer und Kindergartenpädagogen ausgebildet.
Hausnummer 42–44: Ehemaliges Familienasyl St. Josef. Diese Wohnhausanlage steht unter Denkmalschutz. Ab Mitte der 1930er-Jahre entstanden unter der christlichsozialen Stadtverwaltung sogenannte „Familienasyle“. Diese Wohnungen am Stadtrad wurden armen und kinderreichen Familien zeitlich begrenzt zur Verfügung gestellt. Die Anlage wurde nach dem Heiligen Josef benannt. An der Hauswand zur Ettenreichgasse befindet sich eine Großplastik von Josef Heu, die den Heiligen Josef darstellt.
Antonskirche
Über die Inzersdorfer Straße spazieren wir zum Antonsplatz und zur Antonskirche. Die Kirche wurde dem heiligen Antonius von Padua geweiht. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Favoriten nur eine Kirche, die am Keplerplatz (zu der kommen wir dann noch später). Also wurde die Antonskirche gebaut. 1902 erfolgte die Kirchenweihe. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Antonskirche von Bomben schwer beschädigt. Die Wiederherstellung wurde erst 1961 abgeschlossen.
Eine Schlagzeile zur Antonskirche gab es 29. Oktober 2020 in den Tageszeitungen. Rund 50 türkeistämmige Jugendliche drangen in die Kirche ein, riefen „Allahu Akbar“ und randalierten. Beschädigt wurde nichts. Unser Herrgott hat schon schlimmeres erlebt und überstanden.
Reumannplatz
Durch eine kleine Seitengasse gelangen wir auf die Favoritenstraße, oberhalb des Reumannplatzes. Die U1 wurde verlängert vom Reumannplatz stadtauswärts bis zur Therme Oberlaa. Die Straßenbahn, die bis nach Oberlaa fuhr, ist verschwunden. So richtig bekannt wurde der Platz 1978, als die erste U-Bahn-Linie eröffnet wurde. U1 vom Karlsplatz zum Reumannplatz in ein paar Minuten. Das war eine Sensation. Benannt wurde der Platz nach Jakob Reumann, dem ersten sozialdemokratischen Bürgermeister der Stadt.
Und hier gibt es den „Tichy“. DEN Eissalon von Wien. Was würde ich jetzt für einen Eiskaffee geben! Na ja. Auf der anderen Seite vom Platz ist das Amalienbad. Es wurde 1923 bis 1926 gebaut und galt als „die größte und modernste Badeanstalt Mitteleuropas“. Das Bad war an die Grundrisse römischer Thermen angelehnt. Die Schwimmhalle hatte ein bewegliches Glasdach, welches sich in drei Minuten öffnen ließ. Benannt wurde das Amalienbad nach Amalie Pölzer. Eine 1924 verstorbene Favoritnerin und sozialdemokratische Wiener Gemeinderätin.
Quellenplatz
Wir gehen weiter Quellenstraße Richtung Quellenplatz. Ich kann mich noch erinnern an die Eröffnung der U-Bahn und wie dieses Grätzl damals aussah. Es hat sich sehr verändert. Es gab den „Michelfeit“. Das Haus im 10. Bezirk für Möbel, Geschirr, Vorhänge etc. Es gibt noch eine Miniausgabe für Haushalt und Geschenke. „Atzler“ war das Geschäft für Eisenwaren, Küche, Garten etc. Den Atzler gibt es noch, auch verkleinert, aber immerhin. Ansonsten sind viele Geschäfte und Lokale verschwunden. Gekommen sind Kebab, Burek- und sonstige „Fressbuden“. Es riecht auch anders. Nach verschiedenen orientalischen Gewürzen, die wir aus dem Urlaub kennen. Hier sieht und hört man den hohen Ausländeranteil.
Keplerplatz
Laxenburger Straße Richtung Gudrunstraße. Vorbei am Zürcher Hof, der Ende der 1920er-Jahre erbaut wurde. Benannt nach der Stadt Zürich, für Schweizerhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg. Ecke Laxenburger Straße/Gudrunstraße ist das Magistratische Bezirksamt für den 10. Bezirk. Ursprünglich ein Schul- und Kirchengebäude, dann war in diesem Gebäude der zweite Standort der Berufsfeuerwehr Favoriten (1882 bis 1909). Über die Gudrunstraße gelangen wir zum Keplerplatz. Hier steht die renovierte Johanneskirche oder Keplerkirche. Es war die erste Kirche, die in Favoriten errichtet wurde.
Columbusplatz
Wir gehen die Favoritenstraße weiter Richtung Columbusplatz. Was hier sehr auffällt, dass in einer Fußgängerzone so viele Lokale leer stehen. Die großen Häuser wie Tlapa oder Kleiderbauer gibt es nicht mehr. Das große Eckgebäude von Tlapa wurde abgerissen, die Geschäfte von Kleiderbauer oder auch Vögele sind verwaist und das anscheinend schon seit Jahren.
Der Columbusplatz wurde neu gestaltet. Das war ursprünglich ein Marktplatz und ist heute ein Teil der Fußgängerzone. Neu hinzu gekommen ist das Columbuscenter. Auf dem Platz gibt es Sitzbänke und einen Springbrunnen. Im Frühling und Herbst sicher angenehm zum Verweilen, für den Sommer gibt es zu wenig schattige Plätze oder Grünflächen.
Sehr sehenswert ist der Columbushof, auf Nr. 6. Er stammt aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das spät historische Zinshaus ist wunderschön dekoriert. Unter dem Dach sieht man Bacchus und eine Figur in mittelalterlicher Tracht. In der Mitte werden Columbus und der englische Seefahrer Francis Drake dargestellt.
Man sieht hier auch noch sehr viele Satellitenschüsseln, entweder bei den Fenstern oder am Dach. Ich habe das Gefühl mehr als in anderen Teilen von Wien.
Das neue Viertel
Die Favoritenstraße mündet jetzt in den Hauptbahnhof. Südtiroler Platz, das Gelände des Südbahnhofes wurde der neue Hauptbahnhof und das neue Viertel hinter dem Hauptbahnhof, das Sonnwendviertel. Hier ist eine neue Stadt entstanden. Der Gegensatz zum bisherigen Spaziergang könnte nicht größer sein.
Auf 34 Hektar (!) entsteht dieses neue Viertel. 2025 soll es fertiggestellt werden. Hier war einmal das Areal des Frachtenbahnhofs. Die letzten Jahre vor dem Umbau wurde das Areal nur mehr teilweise genutzt. Es gab viele Lagerhäuser, die leer standen und einmal wöchentlich Flohmarkt.
Viktor Adler Markt
Entlang des neuen Viertels erreichen wir die Gudrunstraße und gelangen wieder in die Favoritenstraße. Bevor wir den Markt erreichen, werfen wir noch einen Blick auf das Domenig Haus. Es wurde 1975 bis 1979 von Günther Domenig im Auftrag der Zentralsparkasse und Kommerzialbank – Z – erbaut. Bei der Fertigstellung löste das Aussehen eine heftige Diskussion aus. Heute gehört es zur Favoritenstraße wie der Viktor Adler Markt.
Die nächste Station ist der Viktor Adler Markt. Benannt nach dem Arzt und sozialdemokratischen Politiker Viktor Adler. Was mir neu ist, dass der Platz bis 1919 Eugenplatz hieß, nach Prinz Eugen von Savoyen, und in der Nazizeit Host Wessel Platz. Man lernt nie aus.
Der Spaziergang endet hier am Markt. Ich werde noch Obst und Gemüse kaufen. Und ich würde jetzt so gerne in ein Cafe gehen und einen Espresso trinken und eine Mehlspeise essen. Heute habe ich mich mit dem Raunzen sehr zurückgehalten. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich wirklich fasziniert war von diesem „Grätzl“. Wie sehr sich dieser alte Teil von Favoriten verändert hat. Das nächste Mal werde ich den Böhmischen Prater besuchen. Favoriten ist voller Gegensätze.
Text + Beitragsfoto: Gabriele Czeiner